Die Ersten bei dem Kind in der Krippe seien die Hirten gewesen, heisst es. Aber es gab andere, die waren früher zur Stelle, als noch gar kein Kind in der Krippe lag. Zwei kamen zuerst; sie hiess Hanna, er Esau. Sie war etwa gleich alt wie Maria, also ungefähr fünfzehn; er hätte gut der Grossvater des Kindes sein können, das da geboren werden sollte. Esau hatte bessere Zeiten gekannt. Er war Verwalter eines grossen Landgutes in der Nähe von Bethlehem gewesen, hatte sich dabei etwas zu selbständig aufgeführt und zu grosszügig aus der Kasse bedient und flog in hohem Bogen aus seinem schönen Haus auf die Strasse. Eine Stelle würde er in seinem Alter und mit seinem Leumund kaum mehr finden; seine Frau hatte ihn verlassen, er logierte in immer schlechteren Herbergen und ertränkte sein Elend an den Wirtshaustischen. Hanna dagegen kam aus einem Dorf im Süden und war im ersten Haus von Bethlehem Zimmermädchen gewesen, bis die Chefin bemerkte, dass Hanna schwanger war und ihr auf der Stelle kündigte. Beide wussten nicht, wohin sie gehen sollten. Sie wagte sich nicht zu ihrer Familie zurück, und er hatte kein Geld mehr für eine Unterkunft. Im Kreuz, der schäbigsten Spelunke von ganz Bethlehem, sass Hanna in der Ecke. Es ging in dem Haus zu wie in einem Bienenstock. Seit die Volkszählung begonnen hatte, war die Stadt überfüllt und die Schlafplätze rar. Als Esau hereinkam, erkannte sie ihn sogleich. Er hatte früher oft in dem guten Haus verkehrt, wo sie angestellt gewesen war. Er erkannte sie auch und setzte sich zu ihr. Das eine Glas, das er bestellte, musste für den ganzen Abend reichen. "Gekündigt?", fragte er. Sie nickte. "Und warum?" Sie deutete auf ihren Bauch. Seine Geschichte brauchte er ihr nicht zu erzählen, die kannte ganz Bethlehem. Als Mitternacht vorüber war, rief der Wirt: "Leute, wir wollen Schluss machen!" "Kein Zimmer?", fragte Esau. "Komm mit, ich weiss, wo wir im Heu schlafen können." Und als Hanna zögerte, sagte er: "Keine Angst, ich will nichts von dir." Er zog sie mit sich hinaus und führte sie ums Haus herum. "Da hinten im Stall geben uns wenigstens die Tiere warm." Aber der Stall war belegt. Sie sahen dämmeriges Licht und hörten unterdrückte Schreie. Im Dunkeln blieben sie stehen und schauten durch eine Fensterluke hinein. Da lag im Schein einer flackernden Kerze ein junges Mädchen auf dem Heu und wand sich in den Wehen, und ein Jüngling stand daneben und war ratlos. "Die bekommt ein Kind!", rief Hanna, lief hinein und kniete bei der Gebärenden nieder. "Geh hinüber und hol einen Topf warmes Wasser", befahl sie Esau so sachlich, als wäre sie die Hebamme. Wie er zurückkam, war das Kind schon da und lag auf einem Stück Tuch. "Bring mir das Wasser her", befahl Hanna. Vorsichtig badete sie das Kind, und es begann zu schreien und wurde rosig und schön. "Ein Knabe", sagte sie zu der jungen Mutter. "Ich weiss", flüsterte die. Hanna wusch auch die Mutter, half ihr, sich anzuziehen und legte ihr das Kind in den Arm. Dann stand sie auf, stellte sich neben Esau, und gemeinsam schauten sie auf das Wunder des neuen Lebens und auf seine jungen Eltern. Als bald darauf die Hirten daherkamen, wenig später der Stern über dem Stall erschien, drei hohe Herren eintraten und es überhaupt viel Volk gab, zogen Hanna und Esau sich im Hintergrund des Stalles ins Dunkel zurück und hörten von dort auf die Worte der Hirten und der Könige und staunten und konnten kaum glauben, dass sie dem König aller Könige eben auf die Welt geholfen haben sollten. Endlich wurde es ruhiger. Da legten sich Hanna und Esau nebeneinander ins Heu und schliefen, und hörten nicht einmal, dass das junge Paar mit dem Kind noch in der Dämmerung aufbrach. Am Morgen schauten Hanna und Esau einander verwundert an. Esau sagte: "Ich finde, seit heute Nacht sieht die Welt wie neu aus. Sie behaupteten, das Kindlein sei der Messias, der auf die Welt gekommen sei." Und Hanna sagte: "Solange Kinder zur Welt kommen, gibt's Hoffnung und ist nichts verloren. Jedes Neugeborene kann der Messias sein." Da küsste Esau Hanna auf die Stirn. "Der Messias wird ein schwacher Mensch, um den schwachen Menschen zu helfen. Du und ich, wir sind zwei schwache Menschen. Wollen wir einander helfen? Zusammen werden wir einen Weg finden, für uns und für dein Kleines." Hanna nickte, dann legten sie die Münzen, die ihnen geblieben waren, zusammen, und Esau nahm Hanna bei der Hand, zog sie auf und sagte: "Komm. Für ein anständiges Morgenessen reicht es bestimmt." Text von Pfr.Ulrich Knellwolf